Gesundheitspolitik

 

Psychodynamik Hessen sieht es auch als Aufgabe der Profession, im politischen und kulturellen Umfeld auf die psychischen Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse aufmerksam zu machen. 

Der Prozess der Ökonomisierung und Digitalisierung hat den Gesundheitsbereich zentral erfasst und bestimmt zunehmend die Rahmenbedingungen unserer Arbeit. Die Folgen werden für uns auf verschiedenen Ebenen sicht- und spürbar. Eine ganzheitliche, soziale, und gesellschaftliche Aspekte einbeziehende Auffassung von Erkrankung und seelischem Leid (kontextuelles Modell) gerät immer stärker gegenüber Konzepten ins Hintertreffen, die auf Psychotherapie als Anwendung störungsspezifischer Techniken setzen und mit manualisierter Psychotherapie von einem technokratisch-medizinischen Modell ausgehen. Als Folge der Ökonomisierung in der Medizin werden auch therapeutische Prozesse in Zweck-Mittel-Relationen, als technisch planbar, standardisierbar und auf Effektivität und Qualität überprüfbar konzipiert. Die dominierende quantitativ-empiristische Wissenschaftsauffassung ergänzt und verstärkt ein solchermaßen zweckrationales und technokratisches Denken.

Die externe Einflussnahme auf den therapeutischen Prozess (wie bspw. über finanzielle Anreize für „schnelle“ Behandlungen in Selektivverträgen) führt dazu, dass therapeutisches Handeln selbst zunehmend über die ökonomische Rationalität gesteuert wird. In der Konsequenz führt dies zu einer Aushöhlung unserer Verantwortung für eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung.


Ökonomisierung des Gesundheitswesens – ein moralisches Dilemma oder eine ethische Herausforderung?

Jürgen Hardt

In den letzten 50 Jahren hat sich die gemeinschaftliche Krankenbehandlung radikal verändert. Angeblich ist alles moderner geworden: effizienter, effektiver, transparenter: das könnte ein Grund zur Freude sein, aber die Unzufriedenheit ist groß.

Die Kette der Gesundheitsreformen gilt als notwendige Modernisierung. Aber handelt es sich um eine Modernisierung, wenn Modernisierung die Ausbildung autonomer Bereiche bedeutet, dann würden die Gesundheitsreformen der Modernisierung entgegenlaufen, weil sie die Autonomie der Krankenbehandlung einschränkt? Kammern als Vertretung freier Berufe sind in moderne Einrichtungen. Weil die differenzierte Tätigkeit freier Berufe staatliche Aufsichtsorgane überforderte, wurden ihnen zugestanden, ihre Aufgabe nach eigenem bestem Wissen und Gewissen selbstständig zu erledigen. Dieser Gewinn ist in Frage gestellt.

Die Wirtschaft beansprucht einen eigenen Bereich. Die Autonomie der Rechtsprechung gilt als hohes Gut. Autonomie muss aber für alle „freien“ Berufe gelten: Angehörige freier Berufe üben ihre Tätigkeit autonom aus, sie bestimmen den fachlichen Standard und verpflichten sich auf eine Ethik (Bereichsethik), die dem Handeln moralische Maßstäbe setzt (Berufsordnung).

Machtverschiebung: vom Krankheitswesen zum Gesundheitswesen

In der modernen Krankenbehandlung hat es in den letzten 50 Jahren eine Machtverschiebung gegeben, die sich im gängigen Vokabular ausdrückt. Krankheit wurde zum Unwort, stattdessen soll Gesundheit produziert werden. So spricht man nicht mehr von Krankenbehandlung; sondern von Gesundheitsversorgung und dem Gesundheitswesen. Gesundheit ist Angelegenheit einer Gesundheitswirtschaft, die, von wettbewerblichen Kräften getrieben, Gesundheitsproduktion betreibt.

Therapeuten, Begleiter in der Lebensnot, die ihr Wissen und Können Kranken zur Verfügung stellen, werden zu Leistungserbringern. Patienten gibt es nicht mehr, nur Kunden, aus angeblicher Vormundschaft befreit. Therapeutisch Tätige haben als Leistungserbringer kein Anrecht mehr auf diskretes Wissen. Sie sollen für standardisierte, das heißt öffentlich zugängliche, Diagnosen, qualitätsgesicherte Leistungen anbieten. Die autonome Logik und Ethik der Heilkunde ist überwuchert. Fremde Bereichslogiken (Verwaltung, Verwirtschaftlichung und Verrechtlichung) haben sich durchgesetzt.

Die geforderte Transparenz bedeutet Durchsichtigkeit für Laien. Jeder hat das Recht zu wissen, ohne lange Umwege gehen zu müssen, die man zur Qualifikation in einem differenzierten Bereich durchschritten haben muss. Weil Therapeuten, Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten gegenüber Laien ständig Auskunft geben müssen, meint jeder, Experte zu sein. So wird das Expertenwissen in der Krankenbehandlung entwertet. Neben der Überwucherung mit fremden Werten droht eine Deprofessionalisierung; so ist der Machtübernahme der Weg gebahnt. Das ist das Ende moderner autonomer Therapeutik, trotz aller technischen Fortschritte. Damit wird konsequent das politische Programm der letzten 50 Jahre erfüllt.

Gesundheitsreformen als ökonomistische Machtübernahme

Die Bundeszentrale für politische Bildung rekapituliert die Gesundheitspolitik wie folgt[1]: Die prosperierende Nachkriegszeit ließ den Ausbau der Gesundheitsversorgung zu, bis Mitte der siebziger Jahre eine erste Weltwirtschaftskrise, mit niedrigeren Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit einsetzte. „Nunmehr wurde Kostendämpfung zum vordringlichen Ziel bundesdeutscher Gesundheitspolitik“. Wobei kaum hinterfragt wurde, ob und warum die Gesundheitsversorgung wirklich zu „teuer“ geworden war.

In der ersten Etappe kostendämpfender Reformen wurden die Strukturen der Versorgung nicht tangiert, sie nennt sich deshalb „traditionell“ oder „strukturkonservativ“, obwohl ihr Vokabular schon auf Denkansätze verweist, die mit einem therapeutischen Ethos konfligieren. Die Ausgaben sollten den Einnahmen und nicht ausschließlich der therapeutischen Notwendigkeit folgen, die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung sollten in die Sparmaßnahmen eingebunden werden, die Kostenträger gegenüber den „Leistungsanbietern“ gestärkt und schließlich falsche Handlungsanreize bei den heilberuflich Tätigen korrigiert werden, weil der „weitaus größte Teil der Ausgaben für die Krankenversorgung anbieterinduziert“, das heißt von den Leistungserbringern verursacht, sei.

Der ersten Etappe folgten ab 1992 die „wettbewerbsorientierten Strukturreformen.“ Die Begründung dafür lautet:

„In der ersten Hälfte der 1990er Jahre kam es zu einer Kumulation von Problemen, angesichts derer die bisher erfolgten Problemlösungen in der Gesundheitspolitik zunehmend als unzulänglich wahrgenommen wurden. Diese Probleme betrafen das Gesundheitswesen als auch die gesellschaftliche Umwelt des Gesundheitswesens.“

Insgesamt wird festgestellt: „Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen verschärfte die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte. Dies erhöhte in den Interpretationsmustern angebotsorientierter Modernisierungsstrategien den Druck zu einer Begrenzung von Lohnkosten. Darin eingeschlossen wurden auch die Arbeitgeberbeiträge zur GKV.“

Die neuen Steuerungsinstrumente sollen „für Individualakteurinnen und -akteure einen Ansatz schaffen, sich auf der Basis ihrer eigenen finanziellen Interessen am Ziel der Ausgaben- und Mengenbegrenzung zu orientieren. Auf diese Weise soll eine Kohärenz zwischen dem gesundheitspolitischen Globalziel und den individuellen Handlungsrationalitäten hergestellt werden. Damit verbunden ist eine neue Dimension der ökonomischen Überformung therapeutischer Entscheidungen.“

In einer programmatischen Schrift: „Wachstumsmarkt Gesundheit“ wurde dieser Plan 2001 / 2006 von Oberender, Hebborn und Zerth, genauer ausgeführt. Um das politische Vorhaben durchzusetzen, sei ein „Einstellungswandel“ vonnöten, schreiben die Autoren:

„Dieser Einstellungswandel verändert das Selbstverständnis der Anbieter von Gesundheitsleistungen: lebte diese Anbietergruppe bisher von den Krankheiten ihrer Klientel, so rückt nun deren Gesundheit stärker in den Mittelpunkt. Das Gesundheitswesen wandelt sich zunehmend von einem „Krankheitswesen“ in ein „Gesundheitswesen“, das seinem Namen eher gerecht wird. Diesem Trend haben sich sowohl Krankenkassen als auch zunehmend medizinische Leistungserbringer angeschlossen (Stichwort „AOK – die Gesundheitskasse“).

Aber nicht nur bei den Leistungserbringern soll angesetzt werden, auch die Kunden sollen in den Einstellungswandel einbezogen werden. Dazu folgende Überlegungen. Die hohe Nachfrage von Gesundheitsleistungen ist zum Teil versicherungsinduziert. Das ist einerseits auf den „Freifahrereffekt“, andererseits auf den „Moral-Hazard-Effekt“ zurückzuführen. Was Ökonomen darunter verstehen und was sie als normal und ökonomisch vernünftig annehmen, macht deutlich, welches Menschenbild ökonomisches Denken leitet. Weil der Versicherungsschutz umfassend ist, nehmen Freifahrer unbekümmert Leistungen in Anspruch, ob sie nötig sind oder nicht.

Dazu kommt der Moral-Hazard-Effekt. „Damit werden Verhaltensveränderungen von Versicherten bezeichnet, die nach dem Abschluss eines Krankenversicherungsvertrages auftreten. Verfügt der Versicherte über einen Versicherungsschutz, so ist es für ihn rational, bestimmte bisher durchgeführte Maßnahmen zur Schadensvermeidung (Risikominderung und Risikovorsorge) zukünftig zu unterlassen.“ „Als Folge des Moral-Hazard steigen die Schadenswahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe an.“ Das heißt das ausnahmsweise zu beobachtende unsolidarische Verhalten Einzelner, die das Versicherungssystem ausnützen, wird zum Normalfall rationaler Abwägung erklärt. Durch diese gewagte moralische Setzung (der neoliberalen Wirtschaftsethik) , die den Anspruch erhebt, einzig vernünftig zu sein, wird die Grundlage der solidarischen Krankenbehandlung aufgehoben.

So wird wirtschaftliches Kalkül sowohl auf Seiten der „Leistungserbringer“ als auch auf Seiten der „Kunden“ von Leistungen zum bewegenden Moment des Wachstumsmarktes Gesundheit.

Therapeutische Praxis unter fremden Vorgaben

Dieses gesundheitspolitische Programm hat sich durchgesetzt, weil es unter den Vorgaben neoliberal orientierter Gesellschaftspolitik angeblich alternativlos war. Aber nach wie vor kommen leidende Menschen zum Arzt oder psychologischen Psychotherapeuten, weil sie alleine nicht zurechtkommen. Sie sind mit ihrem Laienverständnis am Ende, auch wenn sie gehalten / verführt sind, sich umfassend zu informieren, sei es über ihre Krankheit, Behandlungsformen oder die Qualifikation derer, die sie aufsuchen. Sie suchen jemanden, dem sie sich anvertrauen können, auch ohne Ratings zu befragen. In ihrer Not möchten sie sich jemandem überlassen, weil sie selbst nicht weiterwissen. So entsteht eine dichte, zugleich diskrete Behandlungsbeziehung, die einen hohen therapeutischen Wert hat.

Trotz aller Normierungen und Skalierungen stellen sich therapeutische Partner auf einzelne Menschen ein und versuchen, ihnen gerecht zu werden. Sie wissen, dass Heilung von Krankheit seine Zeit braucht, die nicht nach Belieben gehändelt werden kann, so kommen sie mit Vorgaben in Konflikt. Geforderte Verdichtung der Arbeit und detaillierte Dokumentation setzen sie ständig unter Druck. Die vollständige Transparenz – hauptsächlich im verordneten Datenverkehr – gefährdet die verpflichtende Diskretion. So kommt der therapeutische Akteur fortwährend in moralische Dilemmata, muss entscheiden, ob er der Ethik seines Berufes gehorcht oder den Vorgaben eines Gesundheitsversorgungssystems, das administrativer und ökonomische Logik folgt.

Die Kammern haben von der Gesellschaft die Aufgabe übertragen bekommen, die Aufsicht über ihre Angehörigen zu übernehmen und dafür Sorge zu leisten, dass diese der Ethik des Berufes (Berufsordnung) folgen. Wenn die politisch verordneten Rahmenbedingungen der Berufstätigkeit in die Praxis eindringen und mit ihren Vorgaben, moralische Dilemmata erzeugen, sind die Kammern gefordert, zum Schutz des einzelnen Akteurs, die ethischen Konflikte zur Kenntnis zu nehmen und sich politisch dafür einzusetzen, dass die Autonomie therapeutischen Handelns wieder hergestellt wird.

Jürgen Hardt, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker,

Gründungspräsident der LPPKJP Hessen

Goethestraße 10, 33578 Wetzlar

juergenhardt@psychoanalyse-wetzlar.de

www.psychoanalyse-wetzlar.de

[1] www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72872/gesundheitsreformen-im-ueberblick gesehen 31.07.2019