„Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.“
(S. Freud, Die Zukunft einer Illusion)
Jürgen Hardt
02.09.1943 – 19.12.2020
Nach schwerer Krankheit ist Jürgen Hardt, Psychoanalytiker, Lehranalytiker, Gruppenanalytiker, DPV und DGPT, Gründungspräsident der Hessischen Psychotherapeutenkammer und Mitbegründer der Psychodynamischen Listen (PDL) am 19.12. 2020 im Alter von 77 Jahren gestorben.
Wir verlieren mit ihm einen allseits geschätzten Lehrer, politischen Mitstreiter und Kollegen, der durch seine fachliche, intellektuelle und persönliche Integrität Maßstäbe für das politische und professionelle Handeln einer ganzen Generation gesetzt hat.
Die Urnenbeisetzung fand am 30. Dezember 2020 auf dem Alten Friedhof in Wetzlar statt.
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Als in der Kammerpolitik aktive Kolleginnen und Kollegen möchten wir die intellektuellen Anstiftungen, die uns in den letzten 20 Jahren mit Jürgen Hardt verbunden haben, wenigstens kurz zum Ausdruck bringen und ihm auf diesem Weg für die gemeinsame Zeit danken.
Zum 01.01.1999 trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft. Damit wurde nach langen Diskussionen ein neuer Heilberuf für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschaffen, die damit eigenständig und ohne Überweisung seitens der Ärzte tätig sein durften. Damals hat sich Jürgen Hardt bereit erklärt, an der Gestaltung des neuen Berufs bereits zu Beginn im Errichtungsausschuss der Kammer mitzuwirken und sich anschließend als Präsident der Kammer zur Wahl gestellt. In vielen spätabendlichen Sitzungen und später auf unseren Fraktionswochenenden auf dem Frauenberg haben wir uns schließlich den Namen „Psychodynamische Liste“ gegeben – das klang ein bisschen wie eine ostdeutsche Fußballmannschaft und entsprach unserer inneren Aufbruch-Stimmung und den Hoffnungen, analytisches Denken im neuen Berufsstand verankern zu können. „Die analytische Situation ist keine Selbstverständlichkeit“ – mit diesem Satz hatte Jürgen Hardt klar umrissen, dass wir unsere therapeutische Arbeit nicht im stillen Behandlungszimmer und weder im rechts- noch politikfreien Raum machen können und immer wieder darum kämpfen müssen, ihren Rahmen und ihre Bedeutung zu erhalten. Er hat 2002 die neue Aufgabe als Gründungspräsident einer Kammer ernst genommen und sich zu Eigen gemacht hat, 10 Jahre seines Lebens hat er dafür eingesetzt – die persönlichen, teils auch gesundheitlichen Folgen waren erheblich.
Wie Sigmund Freud sah Jürgen Hardt die Psychoanalyse als Kulturarbeit im Projekt der Moderne: „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf“. In dieser Tradition des Wiener Kreises begriff er die Psychotherapie als kulturelle Einrichtung und die Kammer als Institution, die sich zum kulturellen Wandel verhalten muss: nämlich dass sie zu den Veränderungen der Familienstrukturen, der Arbeitswelten, der therapeutischen Beziehung, der Ökonomisierung der Medizin, der Digitalisierung der Psychotherapie und der neuen Welt des Internet aktiv Stellung nehmen muss. Thema vieler Aufsätze und Reden war, die mediale Zerstörung menschlicher Kommunikations- und Beziehungsstrukturen aufzuzeigen mit den daraus entstehenden psychischen Folgen. Dabei war er nie kulturpessimistisch, sondern eher neugierig auf Entwicklungen und deren Durchdringung. Aber er wusste auch um die Gefährdungen unseres Berufs durch neue mood-Apps, manualisierte Internet-Therapien oder Stimmungsbarometer und hat immer wieder die Notwendigkeit einer unmittelbaren persönlichen therapeutischen Beziehung aufgezeigt. Auch nach seinem Ausscheiden aus der Kammerpolitik im Jahr 2011 haben ihn diese Fragen weiter begleitet – bis zum letzten uns zugänglichen Zeugnis des Mehrgenerationsgesprächs auf Youtube – „So könnte Demokratie gehen.“ https://www.youtube.com/watch?v=CZaB0eqteKs
Die Freiberuflichkeit des Psychotherapeuten, die Verpflichtung unseres Berufs auf Ethos und Gemeinwohl wurde mit dem Aufbau der Kammer ein zentrales Kernprojekt: die klinische Situation verträgt keinen Eingriff von außen, weil sich die Variabilität von Lebenserscheinungen jeder Normierung entzieht. Die Psychotherapie müsse immer neue Lösungen für immer neue Lebensprobleme erarbeiten, sie könne weder schematisiert, programmiert oder gar gelenkt werden. In seiner Klage vor dem Verfassungsgericht gegen das BKA-Gesetz hat er viele Jahre später, im Juli 2015 diese besonders schutzwürdige Dimension des ärztlich-therapeutischen Handelns gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten der BÄK, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe und dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum zumindest teilweise erfolgreich vertreten.
Aus diesem Denken heraus wurde für uns „Psychodynamos“ das in der Kammerversammlung ausgearbeitete sog. „Geisenheimer Manifest“ zum Dreh- und Angelpunkt einer pluralen Perspektive, die unterschiedlichen Schulen in der Psychotherapie zu vertreten und eine Übersetzung der verschiedenen therapeutischen Sprachen ohne Bemächtigung des Anderen zu versuchen. Die Einrichtung eines zweijährlichen hessischen Psychotherapeutentags war Jürgen Hardts großer Verdienst, ebenso die Einrichtung eines Tags der Heilberufekammern – immer aus dem Wunsch der Identifizierung solch gemeinsamer Themen in den freien Heilberufen. Er hat einen Ausschuss Wissenschaft und Forschung zu seinem persönlichen Anliegen gemacht – die psychotherapeutisch Tätigen sollten selbst Forschungsprojekte auf den Weg bringen und sich nicht von den Universitäten, die längst nomothetisch und verhaltenstherapeutisch ausgerichtet waren, abhängig machen.
So kam unser Supervisionsprojekt zustande – die einzige wichtige Forschungsarbeit, die durch die hessische Kammer initiiert und dann auch mit großer Mehrheit auf den Weg gebracht wurde. Auch Hildegard Felder, die vor fast einem Jahr ganz plötzlich starb, hatte daran einen großen Anteil. Es ist uns als Gruppe damals gemeinsam gelungen, in den verschiedenen Ausschüssen Pflöcke einzuschlagen und in den wichtigen Ordnungen für den neuen Beruf die Handschrift des Geisenheimer Manifests zu verankern.
Als Mitglied des Redaktionsbeirats im bundesweit erscheinenden Psychotherapeutenjournal hat Jürgen Hardt viele Veröffentlichungen psychoanalytischer Autoren gefördert und begleitet; auch einige von uns konnten dort publizieren. Die Anerkennung, die er dort genoss, erstreckte sich weit über regionale oder politische Grenzen – er war ein geschätzter, manchmal auch gefürchteter Diskussionspartner, aber auch persönlicher Ratgeber und Lehrer. Dies galt auch für die DPV und die DGPT, seine wichtigen Fach- und Berufsverbände, in denen er neben der Berufspolitik immer wieder wichtige fachliche Anstöße gab. Jürgen Hardt hatte die seltene Gabe, in scheinbar realpolitischen Fragestellungen die wesentlichen Grundfragen herauszuarbeiten und dadurch die Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen in neuem Licht zu betrachten.
So z.B. beim Thema „Beitritt zum Versorgungswerk“, über den eine Delegiertenversammlung zu entscheiden hatte. Statt die Vor- und Nachteile eines Beitritts aufzuzeigen eröffnete er den Tagesordnungspunkt mit dem Thema der Generativität und Generationenverantwortung, das die Debatte sofort in einen neuen Rahmen stellte und eine sehr ernsthafte und verantwortliche Diskussion einleitete.
Jürgen Hardt wusste seit dem Spätsommer, dass er seiner schweren Krankheit erliegen und dass es keine Hoffnung auf Heilung mehr geben würde. In einer beeindruckenden Weise hat er sich – wach und klug bis zuletzt – mit seiner Krankheit, dem Leben und dem Tod auseinandergesetzt – offen, schutzlos, mutig und berührend für alle, die in den letzten Wochen mit ihm sprachen. Aber wir haben mit ihm weinen und lachen können – und uns verabschieden und bedanken.
All dies bewegt uns weiter und wird bleiben. (swp)