Interview mit Prof. Ulrich A. Müller in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung

Interview mit Prof. Ulrich A. Müller in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung

In einem Interview mit der Hannoverschen Zeitung am 17.09.2024 hat Prof. Dr. Ulrich Müller, Mitglied in der hessischen Delegiertenversammlung und niedergelassener analytischer KJP in Fulda, auf eine Tagung des Winnicott-Instituts in Hannover hingewiesen: „Sinne machen Sinn“ – ein Text zur Bedeutung von Nähe und Beziehung in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie.

Berührung – Trost oder Tabu?

Sinne machen Sinn – unter diesem Thema hat das Winnicott Institut in Hannover ein Symposium für Psychotherapeuten und Therapeutinnen organsiert. Berührungen und Körperlichkeit stehen dabei im Fokus, wichtige Faktoren sowohl in Bezug auf die verordnet distanzierte Pandemie-Zeit sowie die Debatte um MeToo. Prof. Ulrich Müller, Kinder- und Jugendlichentherapeut, Hochschullehrer an der Hochschule Hannover und kooperierendes Mitglied am Winnicott Institut hat die Tagung konzipiert und mitorganisiert. Eine Annährung.

Herr Dr. Müller, es geht um Körperlichkeit, Nähe und Distanz vor allem in er Therapie von Kindern und Jugendlichen, was hat sich da verändert in jüngster Vergangenheit?

Wir haben festgestellt, dass nicht nur die Wartelisten für therapeutische Behandlungen, sondern auch die Wünsche nach Nähe und Präsenz  vor allem seit der Pandemie zugenommen haben. Für Psychiater und Psychotherapeuten aber gibt es ein Berührungs-Tabu. Aber die Kinder wollen zunehmend Nähe und Umarmungen, wir begegnen diesem Bedürfnis im Spiel, in der Interaktion und vor allem im Gespräch. Sie dürfen ihre Bedürfnisse thematisieren und wir helfen ihnen dabei ohne dem Berührungswunsch unmittelbar nachzukommen. Der Wunsch wird zum Inhalt der Gespräche und des Spiels.

Hat die Pandemie wirklich alles verändert?

Die Menschen haben in dieser Zeit der verordneten Distanz die Bedeutung von Nähe und Berührung mehr zu schätzen gelernt. Hände schütteln und Umarmungen wurden uns untersagt – sie gehören aber zur Lebensqualität … und oft auch zu einer miteinander gelebten Kultur..

Manche haben es durchaus genossen, anderen nicht mehr so nahe kommen zu müssen – oder sie ihnen.

Wie nah man jemandem kommen darf, diese Frage steht seit der MeToo-Debatte zentraler im Raum. Das Spontane bei berührenden Begegnungen ist schwerer geworden, die Unsicherheiten sind gewachsen. Natürlich sind Berührungen auch kulturell konnotiert, vor allem für junge Menschen aber sind sie eine wichtige eigene Sprache und Ausdrucksweise.

Von Verwandten möchten Pubertierende in der Regel nicht unbedingt fest gedrückt werden.

Nähe und Berührung haben für Jugendliche eine andere Bedeutung. Sie beginnen in diesem Alter bewusst ein Verhältnis zu ihrem Körper zu entwickeln, der Körper wird bedeutsam und führt aber auch zu inneren Konflikten. Sehe ich gut genug aus, wie ist das Selbstverständnis zu meinem Körper – das sind wichtige Fragen für junge Menschen. Psychische Krisen haben immer etwas mit Körperlichkeit zu tun, dies ist der Ausgangspunkt.

Wie zeigen sich diese Krisen?

Oft zeigen sie sich in Essstörungen oder etwa in Symptomen wie Selbstverletzungen. Es geht dabei um Körperkontrolle, mediale Einflüsse haben bei dieser Selbstwahrnehmung zugenommen. Lange waren für die Selbstbetrachtung Spiegel bedeutsam. Heute kann man Fotos bearbeiten oder sich in einer bestimmten Manier präsentieren – aber der Körper macht dennoch, was er will. Wir möchten, doch wir können unsere Körper nicht endlos kontrollieren. Diese Einsicht kann zum Verzweifeln bringen.

Wie können Nähe und Berührungen unterstützen ohne als übergriffig wahrgenommen zu werden?

Besonders für junge Menschen ist es wichtig, wie sie – vermeintlich – von anderen gesehen werden. Wer gemobbt wird, zieht sich oft traurig zurück. Ein empörtes Sich-Wehren wäre besser. Berührungen, Ansprache und Blicke sind wichtige Grundlagen für eine positive Vorstellung von sich selbst. Kontakte entstehen über Sinneserfahrungen – Sinne machen daher Sinn. So kann Selbstbewusstsein entwickelt werden – und damit die Fähigkeit, als übergriffig empfundene Nähe besser abzublocken. Denn Berührung, Blicke und Begegnung können eben auch als Bedrohung empfunden werden.

In der Therapie darf über körperliche Nähe aber nur gesprochen werden?

Wir versuchen die Menschen emotional zu erreichen und sie vor allem ernst zu nehmen, auch in ihrer Sehnsucht oder Ablehnung nach und von Berührung. Die Wahrnehmung von Distanz und Nähe ist wichtig. Wenn man jemanden gut riechen oder anschauen kann, schafft das auch schon eine Verbindung.  Und Übergriffigkeit hat nicht unbedingt nur etwas mit „Handgreiflichkeit“ zu tun – Blicke und Worte gehören schließlich auch dazu. Grundsätzlich kann man sagen – das Bedürfnis nach Nähe und Berührung ist vor allem seit der Corona-Pandemie gestiegen, die Erfüllung dieses Wunsches aber ist komplizierter geworden.

Um den vielen Patienten und Patientinnen auf den Wartelisten entgegenzukommen, soll die Künstliche Intelligenz auch in der Psychotherapie einziehen. Was halten Sie davon?

Wenn da Avatare via Bildschirm mit den hilfesuchenden Menschen in Kontakt treten, fehlt die zwischenmenschliche Begegnung – und jede Sinnlichkeit wird reduziert. Das wird ein kontroverses Thema in naher Zukunft für die gesamte Gesundheitsversorgung.